Das Recht ist die verbindliche Ordnung des allgemein akzeptierten Verhaltens innerhalb einer Gruppe (Staates), das ein Angehöriger dieser Gruppe gegenüber anderen Mitgliedern äußert. Das Recht ordnet menschliche Beziehungen. Der Genuss von psychotropen Substanzen wie Cannabis betrifft nur den Konsumenten selbst, er untersteht somit nur individualethischen Regeln und entzieht sich folglich als Verhalten des Einzelnen dem Recht als Regelung menschlicher Beziehungen. Jedem Menschen einen großen Spielraum einzuräumen, wie er sein Leben in eigener Verantwortung führen will, ist Kennzeichen einer liberalen Rechtsordnung.
Mit der Begrenzung des Rechts auf eine Regelung der Beziehungen zu anderen Menschen hängt ein Grundsatz des heutigen Strafrechts zusammen: Nur ein Verhalten, das die Rechtsgüter anderer Menschen oder einer ganzen Gruppe unmittelbar beeinträchtigen könnte, kann strafwürdig sein. Es genügt dazu nicht, dass die Mehrheit einer Gruppe, selbst eine kompakte Mehrheit, ein Verhalten moralisch verurteilt. Damit wird dem Strafrecht ethische Bedeutung nicht abgesprochen. Die Menschen zu bewahren vor äußerlich zugefügtem Schaden an Leib und Leben sowie Freiheit, Ehre und Eigentum, ist ebenfalls eine Aufgabe der Ethik, jedoch nicht der Individual- sondern der Sozialethik. Abgelehnt wird einzig die Auffassung, die Gebote der Individualethik oder gar der Religion strafrechtlich zu sichern. Ein Blick auf das Wirken der Inquisition oder das Wüten des Strafrechts in totalitären Staaten zeigen, welche Irrwege eröffnet werden, wenn das Strafrecht das Einhalten religiöser, moralischer oder politischer Überzeugungen gewährleisten soll.
Grundprinzipien der Menschenrechte und Bürgerrechte
Der Genuss psychotroper Substanzen wie Cannabis und alle Vorbereitungshandlungen dazu wie der Anbau, Erwerb und Besitz beeinträchtigen die Rechtsgüter anderer Menschen nicht und können aus ethischer Sicht somit auch nicht strafbewehrt sein, denn jeder muss in seiner Art genießen können und niemand darf, solange der Genuss nicht auf Kosten oder zu Lasten anderer erfolgt, ihn in seinem eigentümlichen Genuss stören. Dies ist ein Grundprinzip der Menschen- und Bürgerrechte. Das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) verstößt in gravierender Weise gegen dieses Grundprinzip der Menschen- und Bürgerrechte, das jedem jedem die Freiheit zugesteht, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet: Die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat also nur die Grenzen, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss eben dieser Rechte sichern. Deshalb darf die gesetzgebende Gewalt keine Gesetze erlassen, welche die Ausübung der natürlichen und bürgerlichen Rechte beeinträchtigen oder hindern.
Recht und Gerechtigkeit
Gesetze, also von der Exekutive (Regierung) ausgearbeitete und der Legislative (Parlament) abgesegnete Gesetze, werden als gesetztes Recht oder auch als positives Recht bezeichnet. Der rechtspositivistische Rechtsbegriff wird allein durch die ordnungsgemäße Setzung und die soziale Wirksamkeit bestimmt. Gesetze dienen somit der Rechtssicherheit im sozialen Kontext und müssen deshalb zweckmäßig sein für das Gemeinwohl. Zudem muss das Recht der Gerechtigkeit dienen. Steht ein Gesetz in unerträglichem Maße im Widerspruch zur Gerechtigkeit oder wird bei der Setzung des Rechts (Einführung des Gesetzes) Gerechtigkeit nicht erstrebt oder gar bewusst verleugnet, dann wird ein solches Gesetz als „unrichtiges Recht“ bezeichnet.
„Ein Staat kann so aufgebaut werden, dass niemand gezwungen ist, etwas zu tun, wozu er nach dem Gesetz nicht verpflichtet ist, und niemand gezwungen ist, etwas zu unterlassen, was das Gesetz gestattet.„
Charles de Secondat, Baron de Montesquieu
BtMG = unerträgliches Unrecht
Das BtMG stellt die Vorbereitungshandlungen (Erwerb, Besitz) für den Genuss bestimmter psychotroper Substanzen unter Strafe, jedoch sieht das BtMG für die Vorbereitungshandlungen für den Genuss anderer psychotroper Substanzen keine Strafe vor. Strafwürdig ist nur der Umgang mit in den Anlagen I bis III zu § 1 BtMG aufgeführten Substanzen (Stoffe). Cannabisprodukte sind in den Anlagen aufgeführt und somit ist der Umgang damit strafwürdig. Da jedoch aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse der Umgang mit Cannabisprodukten weniger schädlich ist als beispielsweise der Umgang mit Alkohol, muss die im gesetzten Recht festgelegte Liste der „verbotenen Stoffe“ als willkürlich und somit als nicht gerecht (unerträglich ungerecht) respektive „unrichtiges Recht“ bezeichnet werden. Zudem beeinträchtigen Erwerb, Besitz und Genuss von Cannabisprodukten nicht den Genuss und/oder die Lebensqualität anderer Menschen. Somit verstößt das BtMG gegen die Grundprinzipien der Menschen- und Bürgerrechte. Auch in dieser Hinsicht muss das BtMG als „unrichtiges Recht“ bezeichnet werden.
Der Begriff „unrichtiges Recht“ wurde von dem Rechtsphilosophen Gustav Radbruch (bekannt durch die Radbruchsche Formel) im Jahr 1946 in dem Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ eingeführt. Da die höchstrichterliche Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland sich mehrfach auf diesen Aufsatz bezog, zählt dieser Aufsatz zu den einflussreichsten rechtsphilosophischen Schriften des 20. Jahrhunderts. Darin heißt es:
„Aber Rechtssicherheit ist nicht der einzige und nicht der entscheidende Wert, den das Recht zu verwirklichen hat. Neben die Rechtssicherheit treten vielmehr zwei andere Werte: Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit. In der Rangordnung dieser Werte haben wir die Zweckmäßigkeit des Rechts für das Gemeinwohl an die letzte Stelle zu setzen. Keineswegs ist Recht alles das, „was dem Volke nützt“, sondern dem Volke nützt letzten Endes nur, was Recht ist, was Rechtssicherheit schafft und Gerechtigkeit erstrebt. Die Rechtssicherheit, die jedem positiven Gesetz schon wegen seiner Positivität eignet, nimmt eine merkwürdige Mittelstellung zwischen Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit ein: sie ist einerseits vom Gemeinwohl gefordert, andererseits aber auch von der Gerechtigkeit.
Dass das Recht sicher sei, dass es nicht heute und hier so, morgen und dort anders ausgelegt und angewandt werde, ist zugleich eine Forderung der Gerechtigkeit. Wo ein Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, zwischen einem inhaltlich anfechtbaren, aber positiven Gesetz und zwischen einem gerechten, aber nicht in Gesetzesform gegossenen Recht entsteht, liegt in Wahrheit ein Konflikt der Gerechtigkeit mit sich selbst, ein Konflikt zwischen scheinbarer und wirklicher Gerechtigkeit vor. Diesen Konflikt bringt großartig das Evangelium zum Ausdruck, indem es einerseits befiehlt: „Seid untertan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat“, und doch andererseits gebietet, „Gott mehr zu gehorchen als den Menschen„.
Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur „unrichtiges Recht“, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.„
Gustav Radbruch in „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht„
Rechtsbewusstsein
Rechtsbewusstsein ist zumeist schon im Kindesalter in sehr differenzierter Form ausgeprägt. Viele Menschen erinnern sich sehr genau, wann sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben ungerecht behandelt fühlten. Und das Zurückdenken an die ersten Erlebnisse, die mit Recht und Unrecht zu tun hatten, wecken oft sehr plastische Erinnerungen hervor. Da wurde man beispielsweise selbst oder jemand anderes in der Schulklasse für etwas bestraft, das die bestrafte Person nicht getan hatte. Da empfinden viele Menschen noch nach Jahren oder Jahrzehnten ein tiefes Gefühl von Ungerechtigkeit, es sei denn, jemand wurde für etwas bestraft, für das man selbst eigentlich hätte bestraft werden müssen. In diesem Fall hat man vielleicht triumphiert, doch selbst dann wusste man ganz genau, dass die Bestrafung eines andern für eine nicht begangene Untat nicht gerecht war.
Erkennen Kinder Lügen?
Auch schon sehr früh lernen Kinder zwischen wahr und unwahr zu unterscheiden. Ein typisches Beispiel soll uns dies vor Augen führen. Mutter, Vater und Kinder sind zu Hause beim gemeinschaftlichen Abendessen an einem Tisch versammelt. Das Telefon klingelt. Die Mutter nimmt den Hörer ab und aus ihren Worten geht hervor, wer die anrufende Person ist und dass diese den Vater zu sprechen wünsche. Der Vater aber macht der Mutter durch Gestik und in zischenden Lauten klar, dass er diese Person nicht sprechen wolle. Die Mutter erklärt nun auf Geheiß des Vaters der anrufenden Person, dass dieser nicht da sei. Egal, wie die Eltern diese Notlüge rechtfertigen mögen, die Kinder wissen ganz genau, dass die Behauptung, der Vater sei nicht da, unwahr ist. Wer die Unwahrheit sagt, ist ein Lügner und gilt als unglaubwürdig, wer die Wahrheit sagt ist redlich und gilt als vertrauenswürdig. Lügen gilt als Unrecht, auch wenn es kein Gesetz gibt, das Lügen unter Strafe stellt, nur der Meineid, das heißt die mit einem Eid bekräftigte Falschaussage vor Gericht, ist strafbar.
Das subjektive Rechtsempfinden des Einzelnen wird im heutigen Rechtsstaat vor allem geprägt durch die von Tradition und Norm garantierten Rechtsgüter: Unversehrtheit von Leib und Leben, freie Meinungsäußerung und Persönlichkeitsentfaltung, freie Verfügbarkeit über persönliches Eigentum und anderes mehr. So weiß jedes Kind genau, welche Spielsachen ihm gehören und welche nicht. Über die eigenen Spielsachen will das Kind stets selbst verfügen können, und wehe, ein anderes Kind nimmt die Spielsachen weg und verunmöglicht die Verfügbarkeit. Ein Unrecht ist geschehen. Anderseits gibt es kaum Kinder, die nicht wissen, dass, wenn sie jemanden etwas klauen, dies ein Unrecht ist. Sie passen auf, beim Diebstahl nicht erwischt zu werden und manchmal plagt sie sogar das schlechte Gewissen. „Mein“ und „Dein“ ist eine Rechtsnorm, die Kinder bereits gut verstehen.
Gesetze ohne Akzeptanz
Was Recht und was Unrecht ist, muss, damit eine Rechtsnorm allgemein akzeptiert wird, verständlich und überzeugend sein. Nur eine allgemein akzeptierte Rechtsnorm kann auf Dauer den sozialen Frieden in der Gesellschaft sichern. Eine Rechtsnorm, die bestimmte Gruppierungen der Gesellschaft diskriminiert und andere bevorzugt, bringt Zwietracht ins Land und ist der Keim von sozialen Unruhen und Gewaltexzessen.
Solange, wie zuvor bereits erwähnt, der heutige Rechtsstaat im Bewusstsein der Menschen als Garant von in der Verfassung genau umrissenen Rechtsgütern wie eben zum Beispiel die freie Meinungsäußerung und Persönlichkeitsentfaltung verankert ist, wird der soziale Friede im Land von einer großen Mehrheit der Bevölkerung gestützt. Assoziiert jedoch eine Mehrheit mit modernem Rechtsstaat Begriffe wie Kronzeugenregelung, V-Leute, großer Lauschangriff, Observation, Telefonüberwachung, Rasterfahndung, Datenspeicherung etc., dann fühlen die Menschen sich gedemütigt und sehen sich nicht mehr als Teil des Staates, sondern denselben als Bedrohung und Feind.
BtMG beschneidet Lebensgestaltung
Das BtMG ist eine Rechtsnorm, die von vielen in ihrer heutigen Form nicht akzeptiert wird, da das BtMG eine einseitige und willkürliche Beschneidung individueller Lebensgestaltung mit sich bringt. Etwa ein Viertel aller 12-59jährigen in Deutschland lebenden Menschen haben bereits Erfahrungen mit illegalisierten Drogen. Das heißt, dass in dieser Altersgruppe etwa 12,5 Millionen Menschen so genannte „nicht verkehrsfähige Stoffe“ und/oder „nicht verschreibungsfähige Stoffe“ konsumierten. Hier handelt es sich somit nicht um eine so genannte „kriminelle Minderheit„, sondern um einen relevanten Anteil der Gesamtbevölkerung. Vor diesem Hintergrund ist es wahrlich schwierig, jungen Drogenkonsumenten die Notwendigkeit eines eigenen Rechtsbewusstseins zu vermitteln. Eine Richtungsänderung in der Betäubungsmittelpolitik ist somit nicht nur von Nöten, um der Verelendung von Drogenabhängigen vorzubeugen und die Zahl der Opfer zu mindern, nicht nur um der Beschaffungskriminalität den Nährboden zu entziehen, nicht nur um den Drogenschwarzmarkt auszutrocknen und somit die Einnahmequellen der organisierten Kriminalität abzugraben, nicht nur um Misstrauen in der Gesellschaft und Verrat und Erpressung in Familien vorzubeugen, sondern vor allem auch, um ein vernünftiges und glaubwürdiges Rechtsbewusstsein in der Gesellschaft wieder herzustellen.
Quellen
- Hans Schulz: Strafbarkeit von Konsumenten von Betäubungsmitteln?, in: Stefan Bauhofer, Pierre-Henri Bolle, Volker Dittmann (Hrsg.: Schweizerische Arbeitsgruppe für Kriminologie): Drogenpolitik – Beharrung oder Wende = Politique de la drogue – continuation ou alternance, Verlag Rüegger, Chur/Zürich 1997, ISBN 3-7253-0575-7
- Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristenzeitung. 1946, S. 105-108.
- Radbruchsche Formel
von Hans Cousto